Roza`s Sonntagvormittag

„Schreib mir Deine Lebensgeschichte auf“, sagte mein Ur-Enkel Rolf neulich zu mir!
„Du bist meine einzige noch lebende Zeitzeugin aus dem vergangenen Jahrhundert“.
Rolf betreibt Ahnenforschung.
Gierig saugt er alle Informationen auf, die er von mir kriegen kann. Bis ins 16. Jahrhundert reichen die Wurzeln, die er bisher zu unserer Familie ausgegraben hat. Wie ein Puzzle setzt er einzelne Hinweise aus den Mosaiksteinen der Erzählungen in unserer Familie zusammen. Er geht jeder Spur nach. Geschichtliche und politische Ereignisse recherchiert er aus dem Internet hinzu.
Als Rolf mich vor einer Woche wieder einmal im Seniorenstift besuchte, wollte er, dass ich ihm von meiner Kindheit erzähle: „Ur-Oma, wie war das damals, als Du ein Kind warst? Welches Ereignis wirst Du nie vergessen?“
„Oh Junge, daran möchte ich gar nicht mehr denken. Wenn man wie ich bald einundneunzig Jahre alt wird, kommt einem rückblickend manches wie eine unendliche Fernsehserie vor.“

Eigentlich wollte ich Rolf nichts erzählen.
Manches liegt auch so lange zurück, dass ich glaube, es gar nicht erlebt zu haben.
Doch Rolf quengelte und quengelte und ließ nicht locker. Er holte mein uraltes Jugend-Fotoalbum, mit dem weinroten abgegriffenen Einband hervor, dessen Seiten sich nur noch mit einem Gummiband zusammenhalten lassen. Gemeinsam fingen wir an die alten, vergilbten Fotos aus den 1920er und 1930er Jahren zu betrachten.

Die junge Frau mit den langen braunen Haaren und den lachenden Augen bin das ich?
Bin das wirklich ich, die Roza, die im Marlene Dietrich Kostüm, auf dem Kopf ein kleines Hütchen, als 18-jährige neben dem Vater vor dem Theater steht?

Ach, waren das Zeiten!
Wir lebten am anderen Ende der Welt. In der ehemals österreichischen Kronstadt Czernowitz, der östlichsten Stadt der früheren österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie.
König Carol II. regierte unsere kleine heile Welt in der Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt, in der Deutsche, Rumänen, Juden, Russen und andere Volksstämme friedlich miteinander lebten. Wir sprachen alle mindestens drei bis fünf Sprachen und Dialekte. Dreihundert Zeitungen und mindestens genauso viele Kaffeehäuser gab es und das riesige Theater, vor dem mein älterer Bruder uns, meinen Vater, meine drei Schwestern und mich fotografiert hatte.

Vater arbeitete Tag und Nacht. Als Zugführer war er bei der österreichischen Staatseisenbahn. Von seinen Zugfahrten in ferne Städte brachte er uns oft schöne Kleider, Röcke und Kostüme mit. Wenn er nicht ins ferne Wien unterwegs war, half er seinem Bruder. Der hatte ein Taxiunternehmen.

Doch der Sonntagvormittag war ihm heilig, der gehörte immer uns, seinen Töchtern.
Nach dem Kirchgang führte er uns ins Kaffeehaus aus. Das war Tradition. Während die Mutter mit den Hausbediensteten das Mittagessen zubereitete und mein Bruder dem Onkel bei den Taxen half.

Meistens gingen wir ins Cafe Central, das gegenüber vom Theater lag. Wie im Taubenschlag ging es zu. Unter den Augen habsburgischer Schönheiten, die von den Wänden lächelten, trafen sich internationale Geschäftsleute, schäkerten Offiziere und genossen Berühmtheiten aus allen Städten des ehemaligen Kaiserreiches ihren Kaffee: Literaten, Maler und Musiker ebenso wie Politiker, Professoren und andere Gelehrte. Die einen debattierten lautstark an ihren Tischen, während andere still in einer der vielen Zeitungen, die hier auslagen, lasen. An manchen Tischen philosophierte einer, während der Rest der Gesellschaft lauschte. Oft unterhielten Musikanten, Stehgeiger genauso wie Damen- oder Jugendkapellen, den Saal. Am schwersten hatten es die Pianisten, die gegen das Stimmengewirr, das Schwätzen im Saal anspielten. Ja, im Saal, denn die damaligen Kaffeehäuser hatten in ihrer überdimensionierten Größe nichts gemein mit den Cafés, die es heute gibt. Manche Kaffeehäuser waren so groß wie heute eine kleinstädtische Bahnhofshalle. Die Glastüre im Eingang drehte sich ununterbrochen, oft konnte man innerhalb einer Stunde den gleichen Hut, denselben Bart, dieselbe Nase zigfach in Rotation sehen. Viele kamen nur, um zu sehen und gesehen zu werden.

Unser Kaffeehausbesuch spielte sich immer gleich ab:
Gegen halbzwölf betraten wir hintereinander vor dem Vater das Cafe, zuerst Erna, die Älteste, gefolgt von Fritzi, Lissi und mir. Wir setzten uns in der Mitte des Saals am Fenster nieder, denn so hatten wir sowohl das Geschehen im Innern wie auch auf der Straße im Blick. Sobald wir saßen, brachte der Oberkellner für Vater einen Einspänner, für Erna und Fritzi einen Verlängerten, für Lissi und mich Schokolade, dazu vier mürbe Kipferl. Danach bekam Vater zuerst die Sonntagszeitung, dann die Wiener Zeitung, wir die ausländischen Mode-Magazine. Ein Ritual, das sich stets in gleich bleibender Weise abspielte. Kichernd blätterten wir Jüngeren in den Modezeitschriften, während Erna und Fritzi sich die Köpfe nach den jungen Offizieren verrenkten oder verschämt wegguckten. Manchmal tänzelte eine der beiden am Arm eines Korso-Offiziers davon, um in der Saalmitte einen Walzer aufs Parkett zu legen.

Heute glaube ich, dass unser Vater niemals die Zeitung las, sondern immer heimlich aus den Augenwinkeln seine beiden Ältesten beobachtete und ein Auge darauf hatte, dass nichts Unsittliches geschah. Letztlich war es für ihn und Mutter eine gute Gelegenheit, interessante und gut betuchte Schwiegersöhne für die Töchterschar zu entdecken. So hatte er nicht nur ein Auge auf unsere Liebeleien, sondern lenkte und bestimmte indirekt auch das Lebensglück seiner Töchter. Wer sich im Kaffeehaus nicht bewährte, der hatte keine Chance über die Türschwelle unseres Hauses und in die Familie einzutreten.

Während ich in alten Jugend-Erinnerungen an unsere Kaffeehaus-Tradition schwelgte, hatte Rolf im Familienalbum längst weiter geblättert.
„Wer ist denn das?“ riss er mich mit lauter Stimme aus meinen Gedanken und deutete auf ein vergilbtes Foto. Es zeigt eine junge Frau, die auf Schlittschuhen, auf einem Bein stehend, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Hände waagrecht von sich gestreckt, auf dem Eis eine Pirouette dreht. Rolfs Zeigefinger deutete jedoch nicht auf die junge Frau, sondern auf den jungen Mann dahinter, der es ihr synchron gleich tat. „Warum fehlt dem denn das Gesicht? Warum ist das weggekratzt? Wieso sind vom Kopf nur noch die Haare zu sehen?“

„Ach Junge, das ist eine andere Geschichte! Für heute ist es genug mit dem Bilder gucken! Es ist gleich fünf, musst Du nicht langsam zum Zug?“ Energisch klappte ich das Album zusammen, raffte mich mühsam vom Sessel hoch und packte es in den Schrank zu den anderen Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit, während Rolf seinen Mantel anzog und sich anschickte zu gehen.

Fortsetzung folgt

Roza III

Frauen haben ihre eigenen Waffen: die List ist eine davon.

Eine, die diese Waffe auf besonders listige Weise einzusetzen vermochte, war auch die Mystikerin Hildegard von Bingen. Die verkaufte sich gegenüber ihren Klosterbrüdern gerne als „arme, schwache, demütige Frau, die nichts weiß“ und behauptete ihr Leben lang, „ihr ganzes Wissen käme von Gott“. Damit hat sie die Mönche verunsichert und nicht nur die….

Auch Tante Roza war eine listige Person, ganz im Sinne der eben überlieferten Beschreibung der deutschen Volksheiligen. Allerdings glaube ich, dass Roza erst durch ihre Lebensumstände dazu wurde. Die verbliebenen wenigen Lebensjahre der Freiheit waren, nach einem jahrzehntelangen Leben, das vom Überleben (verlinken) geprägt war, zu kurz, als dass sie noch in der Lage gewesen wäre, ihr heimtückisch listiges Wesen abzustreifen.

Oder, um es unverblümt, zu sagen: Sie brachte es nicht mehr fertig über ihren Schatten und über die ihr wohl größte erlittene Schmach und Enttäuschung zu springen, die ein Mann, ihr Ehemann, ihr zugefügt hatte und reinen Tisch zu machen.

Listig wie sie war, hat sie das letzte Geheimnis, von dem sie wohl glaubte, dass es ihr ur-eigenes Geheimnis wäre, mit ins Grab genommen.

Das war egoistisch und dumm von ihr. Sie hätte ihren Mund aufmachen und reden müssen!
Sagen, was sie weiß! Statt ihr Wissen mit ins Grab zu nehmen.

Damit hat sie zu Lebzeiten sich und über den Tod hinaus vor allem derjenigen geschadet, der sie bis zuletzt am nächsten stand, weil sie das einzige war, was ihr im und vom Leben blieb: ihre Tochter Alexa.

Mit ihren Listigkeiten setzte sie andere Menschen gern unter Druck und ich gehe immer noch jede Wette ein, dass sie das bewusst kalkulierend und berechnend tat, auch wenn sie dann gern ihre Unschuldsmiene aufsetzte und sagte: „Ich bin eine arme, schwache Frau, die der einzige Mann, den sie je geliebt habe, hintergangen hat. Ich habe von nichts gewusst!“

Manchmal habe ich mich gefragt, ob sie dieses Verhalten aus List und Tücke in diesem unfreien Staat gelernt hatte!?

Immerhin gab es da gewisse Gerüchte im Familienkreis… seit damals… jenen Sommer, als halb Zentraleuropa unter Hochwasser stand und dennoch das große Wiedersehen der Familiengenerationen bei Tante Roza in der Buchenlandheimat stattfand.

Eines Abends, alle vier Generationen hatten sich im Garten von Maria zum sommerlichen Barbecue nach buchenländischer Art eingefunden. Es ereignete sich nach dem Hauptgang, jedoch noch vor dem Dessert, als Tante Roza ihr HenkeltaschenHandtäschchen zückte und den silbernen Ausweis hervorzog und damit in der Luft herum fuchtelte.

Lag es am Wein oder an den Schnäpsen, die bis dahin reichlich geflossen, die ihr die Zunge gelöst hatten? Sie ihre listige Vorsicht vergessen ließen? Oder wollte sie sich nur in den Mittelpunkt spielen? Denn zu dem Zeitpunkt hatte sich quer über den Tisch hinweg eine fröhlich-gesellige Tischgesprächsrunde entwickelt, bei der eben die betagte Tante nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

Maria und Josef, die besten Freunde von Roza und Alexa, waren ins Haus gegangen, um den Nachtisch zuzubereiten… die Familie unter sich, als sie eben jenes Metallkärtchen zückte, bei dem man auf den ersten Blick nicht wusste, war es aus silber glänzendem Blech oder tatsächlich aus echtem Silber. Jedenfalls wog es in der Hand schwer. Blei schwer.

„Ob die da Sondermüll im Täschchen mit sich trägt“ – flüsterte mir der neben mir sitzende Onkel Erich zu.

„Hoffentlich nicht, sonst sind wir jetzt alle verseucht“ – meinte seine Frau Inge, die andere und meine Lieblingstante, die es mit gehört hatte.

Während die eine Tischhälfte sich hinter vorgehaltener Hand in Frotzeleien erging, fuchtelte Roza aufgeregt mit dem Silberbillet in der Luft herum, welches ihr die jüngere Tochter Alexa mittlerweile zu entreißen suchte.

Die Sprache der beiden Rumäninnen wurde immer lauter und emotionaler, bis beide in ihrer uns nicht verständlichen Sprache regelrecht miteinander zu schreien anfingen und ich mir dachte:

„Mein Güte, die scheinen gerade keine Freundlichkeiten miteinander auszutauschen“

Da fiel im Handgemenge der Bedeutungs schwangere Bleiklumpen gerade so in meine Hand. Woraufhin jäh das Gekreische der beiden Frauen erstarb und ich mich laut in die unvermittelt eintretende Stille sagen hörte: „Der ist tatsächlich Blei schwer und glitzert, dass es einem beinahe in den Augen wehtut.“

Er war höchstens drei Zentimeter hoch, jedoch gewiss zehn lang. Auf seiner linken Hälfte war in altdeutscher Schrift der kleine Buchstabe „m“ aufgedruckt, dessen Buchstabenbeginn eine Art Hufeisen unterbrach oder verlängerte – je nach dem wie man es als Betrachterin sehen und interpretierten wollte. Der Rest des kleinen Buchstaben „m“ lag beinahe vollständig, im Hufeisen, das im Halbrund seiner Außenseite vier Erhebungen aufwies, wie die Zinnen eines mittelalterlichen Turms. Der hintere Schenkel des Buchstaben „m“ wiederum lag über einem im neunzig Grad Winkel aufgeklapptem Zirkel, dessen unterer Stab das auslaufende „m“ berührte und dessen oberer Stab mit einem Abstand von einem halben Zentimeter über dem Buchstabenrücken lag. Daneben prangten in großen Lettern zentriert ausgerichtet die beiden lateinischen Buchstaben: „Nr“ und ein Punkt.

„Da ist noch eine Art Logo aufgestanzt“ – hörte ich mich zur Familie sagen, während Alexa ihrer Mutter einen bitterbösen Blick zuwarf.
„Wenn Blicke töten könnten“, dachte ich mir, sprach jedoch laut weiter zu den anderen: Da ist noch eine Nummer aufgedruckt. In schwarzer Farbe…“

Mehr vermochte ich über den obskuren Gegenstand nicht zu berichten, da mir mitten im Satz Alexa das Kärtchen wegschnappte.
Selbst Erich, der noch nachsetzte:
„Ich möchte es auch mal sehen“ und den Alexa auch sehr in ihr Herz geschlossen hatte, bekam es nicht mehr. Alexa steckte das Silberkärtchen weg und Tante Roza setzte eine beleidigte Miene auf.

Die Stimmung war dahin.
Keiner wagte mehr nachzufragen, hatten wir Alexa doch nie so resolut erlebt. Auch wollte keiner das Geschrei der Beiden von neuem entfachen.

So endete ein heiterer unbeschwerter Abend im Schweigen. Selbst das Dessert vermochte die verlorene Stimmung nicht aufzunehmen. Es wurde gegähnt. Und Alexa meinte: „Es sei ohnehin schon sehr spät geworden und für sie und Roza Zeit, schlafen zu gehen.“

Allerdings saßen die anderen, die eigens aus Deutschland angereist waren, noch bei einander und rätselten über den ungewöhnlichen Auftritt der beiden alten Tanten:
ob das Kärtchen eine Fälschung war und sich Roza nur wichtig machen wollte!?
Schließlich hätte man es auch für ein wertloses Stück Blech halten können.
Vor allem, wozu war der Ausweise überhaupt gedacht?
Wohin gewährte er seinem Besitzer den Zutritt?

Fragen, die Roza nun mit ins Grab genommen hat – wie auch ihre Geheimniskrämereien.

Schließlich hütete sie noch ein weiteres Geheimnis…

…Fortsetzung folgt…

Roza II

Was ist ein gelungenes Leben?

Wenn eine ein-und-neunzig-jährig verstirbt, dann umfasst das vier Generationen, wenn man davon ausgeht, dass eine Generation zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre umfasst.
Das ist irgendwie unvorstellbar.

Ein und neunzig Jahre.

Für Roza bedeutete das: Sie kannte noch das Kaiserreich, jedenfalls aus den Erzählungen ihrer Eltern, meiner Ur-Großeltern. Als sie geboren wurde, war der Ort, an dem sie das Licht der Welt erblickte und den sie immer als ihre Heimat bezeichnet hat, schon im Niedergang begriffen. Denn der Kaiser war einige Jahre vorher am Balkan erschossen worden und in Folge davon der erste Weltkrieg ausgebrochen.

Ein Krieg, der für den anderen Strang der Familie Pflichterfüllung, Disziplin, Verantwortung, Verteidigung der Heimat, Vaterland und Frontdienst bedeutete und in der Verleihung von bedeutenden Orden, gar des höchsten militärischen Ordens [angeblich! Wenn man den Erzählungen längst verblichener Tanten und Onkel jenes Stranges glauben darf] gipfelte.

Doch am anderen Ende der Welt schwelgte man – der Welt Schicksalslauf ignorierend – weiter im Glauben und Gefühl der kronländischen Zugehörigkeit. Roza erlebte eine sorgenfreie Kindheit und Jugend. Ihr fehlte es als Nesthäkchen der Familie an nichts. Sie besuchte das „Lyceum“ und erlernte mehrere Sprachen. Schließlich war das dort in der Vielvölkerstadt so üblich. Eine unbeschwerte Zeit. Bis zu dem Tag, an dem der Schatten der Geschichte, die NS-Zeit und der zweite Weltkrieg, sich über Europa und die Welt, auch jene im versunkenen Landstrich der Nord-Bukovina legte.

Jener Tag, der die Familie auseinander riss und Roza`s eigenes Leben entzweite.

Dem Verlust der Familie folgte der Verlust der Heimat dieser der Verlust der Freiheit.
Es ging die persönliche Freiheit verloren, die gesellschaftliche, die politische.
Ihr Leben war fortan geprägt vom Überleben. Zunächst unter der Hitler-Diktatur, dann unter dem sowjetischen Stalinismus, dem der sozialistische Kommunismus und nach erneuter Flucht die Jahrzehnte andauernde Tyrannei des rumänischen Imperators folgte.

Über diese Zeiten der Unfreiheit hat sie nie gesprochen. Sie waren tabu.
Als sie mit 65 Jahren zum ersten Mal die Ausreisegenehmigung nach Deutschland erhielt und nach drei tägiger Fahrt mit Bus und Bahn quer durch halb Europa reisend in der Waldheimat ankam, verlor sie in der drei Monate währenden Besuchszeit kein einziges Wort über die Zustände in ihrer eigenen Heimat. Die schwieg sie beharrlich aus. Sie schüttelte nur den Kopf und verzog das Gesicht entweder zu einer ernsten Miene oder lachte ironisch, wenn man nach dem Leben dort fragte.

Erst im hohen Alter von fünf-und-achtzig Jahren, zehn Jahre nach der Befreiung vom Diktator, kam der erlösende Satz, bei einem Familientreffen über ihre Lippen:
„Meine Kinder, nun brauchen wir nicht mehr in den Wald zu gehen, wenn wir frei miteinander sprechen wollen. Vorbei. Vorbei. Vorbei“ und bei diesem kleinen Wörtchen faltete sie wie zum Gebet die Hände vor dem Gesicht und hob sie verzückt drein blickend mehrfach gen Himmel.
„Das letzte Jahrzehnt war so schön wie das erste meines Lebens“, sagtest du zu mir, als du das Jahr vor deinem Tod deinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hast.
„Ich möchte Hundert werden, mein Kind, hörst du!? Die nächsten zehn Jahre schaffe ich noch!“ Das war dein festes Ziel. Ein Jahrhundert Leben zu vollenden.
Nachdem du die mittleren zwanzig Jahre, zwischen deinem vierzigsten und sechzigsten verdrängt hattest, jene Jahre, die dir die schlimmsten waren, die enttäuschendsten, weil zu den Entbehrungen und Verlusten ein weiterer persönlich tief greifender Schmerz hinzutrat: Der Verlust des geliebten Mannes. Die Enttäuschung einer ehemals großen Liebe. Deiner großen Liebe. Der dich dich aufs Übelste hintergangen und dir im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen entzogen hatte, als du, selbst Mutter zweier Kinder, zweier Töchter, erfahren hast, dass da ein weiteres Kind existiert. Ein Junge. Er war ein Jahr älter als deine jüngste Tochter. Doch das hast Du erst viel später erfahren [dass er älter war]… viel später…
Er, dein Mann, hatte es dir entgegen geschleudert, in jener Nacht, nachdem du ihm erneut eine Szene gemacht hattest, hinter ihm her spioniert hattest, weil du es ihm nicht mehr glauben wolltest: die vielen Überstunden, die vielen Dienstreisen, auch über das Wochenende, in die Sowjetunion. Heimlich warst du ihm hinterher gefahren, als er wieder einmal anrief und sagte, es werde später werden, du sollest nicht mit dem Abendbrot auf ihn warten.

Du hattest einen Verdacht und bist dem nachgegangen. Und hast sie schließlich gesehen. Wie sie dem alten Viertürer entstiegen war, als er die Beifahrerseite öffnete und sie im Schutze des Schirms aussteigen ließ und zum Hause geleitete, wo sie ihm nochmals um den Hals gefallen war, ihn stürmisch verabschiedete. Da stelltest du ihn. Im Regen. An seinem Wagen.

Fortsetzung folgend

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