Im Tunnel
„Jeder bekommt seine Aufgabe über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Berufsleben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Jobs oder auch Arbeitgeber wechseln wie er will.“
In Anlehnung an Heimito v. Doderers furiose Anfangssätze aus
Ein Mord, den jeder begeht
Er werde noch einmal mit einer Knarre durchs Haus laufen und alle niederschießen, sagt er, als wir am Tisch in der Cafeteria sitzen.
Drei schweigen betroffen, einer lacht.
Es ist ein hysterisches Lachen.
Mehr ein Auflachen.
Ha-ha-ha-ha.
Beim Sax fange er an.
Wieso beim Sax? – fragt einer.
Weil er, der größte Verbrecher sei, er entscheide.
Aber machen tut`s doch der andere, der Grün – wirft einer ein.
Ja, der Grün – rufen die vier im Chor – der macht`s.
Alle im Chor:
Der holt den Würfelbecher raus und würfelt sie aus, die Stellen und die Personen.
Der schlage vor, wer sich direkt von A nach B zu bewegen habe,
wer zum nächsten ersten, nicht über Los ziehen darf.
Acht Jahre Import-Export.
Zuerst für Indien, dann für China, schließlich für Vietnam zuständig.
Ein jedes Mal.
Neu einarbeiten.
Binnen zwei, drei Monaten.
Neue Länder. Neue Sitten.
Nur die Zeitverschiebung. Für die Telefonate
Bleibt annähernd gleich.
Manchmal ist er sogar Sonntagnachts in die Firma gefahren.
Seine Firma.
Hat den „Tatort“ sausen lassen.
Hat den Familienfrieden gefährdet.
Statt mit dem Sohn Fußball gespielt,
den Chinesen gefaxt.
Seine Ehe auf eine harte Probe gestellt.
Weil er am Abendbrottisch gefehlt hat.
Weil er erst frühmorgens wieder heimgekehrt ist.
Doch Chinesen kennen keine Sonntagsruhe.
Wenn eine Vertragsklausel nicht gefiel,
hat er sie geändert.
Notfalls nachts um zwei, wenn es
sein musste.
Dafür haben sie ihn geliebt.
Jedenfalls unter der alten Führung.
Dann wechselte die.
Ab da war er für Vietnam zuständig.
Obwohl er das Land nicht mochte.
Mit den Schlitzaugen konnte er nichts anfangen.
Waren ihm zu unterwürfig.
Das Lächeln.
Nichts für ihn.
Nach vier Wochen wollte die Führung unbedingt
D O R T H I N.
Ooooo.Keeeee.
Er macht das.
Er organisiert alles.
Auch das Damenprogramm für die Ehefrau.
Des neuen Konzernchefs.
Vier Wochen Vorbereitung.
Für eine Export-Reise,
die er sonst üblicherweise in sechs Monaten vorzubereiten hatte.
Da kannte er auch die andere Seite,
hatte seine Verbindungen,
wusste,
wem er vertrauen konnte,
an wen er sich für welches Gespräch wenden konnte.
Etwas Landestypisches wolle er sehen, meinte der Konzernchef.
Etwas Landestypisches? – echoen die vier am Kantinentisch.
Etwas Landestypisches! – sagt er.
Alle im Chor:
Die Stadt brodelt und raucht.
An allen Ecken und Enden herrscht hektische Betriebsamkeit.
Auf den Straßen wird gefeilscht.
Aus den Cafés dröhnt stampfender Beat.
In schicken, vollklimatisierten Bars sitzen West-Touristen bei Croissants und Kaffee.
Junge Büroangestellte fahren Mopeds,
manövrieren sie geschickt durch den hupenden Verkehr.
Auf den Pedalen. Mit flachen Mokassins oder spitzen Highheels.
Die langen Haare wehend im Fahrtwind. Das Stoppelhaar zurück ge-gelt.
Zwischen Kolonialbauten schießen Hochhäuser empor.
Mittendrin:
Eine stille Pagode aus anderen Zeiten.
Mönche beten.
Exotischer Duft
zieht aus Räucherstäbchen und Garküchen empor.
Im Park
packen Puppenspieler ihre Holzfiguren aus.
Kinder lachen.
In den verwinkelten Gässchen der Stadt
spielen Geigenvirtuosen,
traktieren Wunderheiler mit feinen Nadeln
die Haut ihrer Kunden.
Eine Schneiderin
stichelt vorsichtig an einem „ao dai“,
einem eleganten, langen vietnamesischen Seidenkleid.
So eines wollte die Frau haben – seufzt er.
So eines, aus d i e s e r Stadt – rufen alle aus.
Die Stadt ist keine Stadt im eigentlichen Sinn, sondern eine kleine Provinz. Auf einer Fläche von 2029 Quadratkilometer erstreckt sie sich: vom Südchinesischen Meer bis fast an die kambodschanische Grenze. 25 Prozent der Einwohner leben in der dörflichen Umgebung, die 90 Prozent des Provinzgebietes ausmacht. Die restlichen 75 Prozent drängen sich auf den verbleibenden 10 Prozent der Fläche, dem eigentlichen Stadtkern.
Die Stadt wurde einst, 1859, von den Franzosen erobert.
Sechs bis sieben Millionen Menschen leben hier. Ein Drittel illegal.
Die Stadt ist das wirtschaftliche Zentrum des Landes. 30 Prozent der Produktions- und 25 Prozent der Einzelhandelsleistung des Landes wird hier erbracht. Die Gehälter sind viermal so hoch wie im Landesdurchschnitt.
Folgt man der Duong Nguyen Binh Khiem nach Nordwesten erreicht man nach ein paar Straßen die Pagode des Jadekaisers.
Prachtvoller Schlusspunkt eines jeden Aufenthalts – sagt er.
Dort befinden sich die Tien Nhan, die Gottmenschen.
Dort sitzt Ong Bac De, eine Reinkarnation des Jadekaisers.
Beschützt von seinen Wächtern.
Hinter dem Raum des Jadekaisers liegt ein weiterer Raum.
Er wird von Thang Hoang, dem Vorsteher der Hölle beherrscht. Er schaut in Richtung der Halle der zehn Höllen. Geschnitzte Holztafeln zieren die Wände. Sie stellen anschaulich die verschiedenen Qualen dar, die böse Menschen in den zehn Bereichen der Hölle erwarten. Über jeder Tafel sitzt ein Richter, der in einem Buch die Taten vorliest…
Barsch habe ihn sein Vorgesetzter unterbrochen:
Das wolle der neue Konzernchef nicht sehen… Da gäbe es doch dieses Tunnelnetz… das wäre etwas. Etwas Abenteuerliches…
Für das Kind im Mann – kichert eine der Kantinenkolleginnen.
Allgemeines Gelächter.
Ha-ha-ha-ha.
So oder ähnlich, meint er und:
Sein Vorturner, habe gemeint, man sitze den ganzen Tag herum, da wäre es nicht verkehrt, zum Abschluss des Tages etwas Bewegung zu haben, bevor man abends wieder sitze und esse.
Sein Gesprächspartner sei auf seinen Wunsch gleich angesprungen – meint er.
Er habe ihm gleich einen Plan gefaxt.
Was für einen Plan? – wundern sich die vier, die mit ihm in der Cafeteria sitzen.
Einen Tunnelplan – sagt er.
Alle im Chor:
Ah… ein dichtes System aus Wegen und Pfaden.
Teilweise mehrere Ebenen übereinander.
Mit unzähligen Falltüren.
Auf dem Plan ist noch viel mehr zu sehen – meint er:
Waffenschmieden. Feldlazarette. Wohnbereiche. Küchen. Kommandozentralen.
In seiner besten Zeit erstreckte sich das Tunnelsystem von der südvietnamesischen Hauptstadt bis zur kambodschanischen Grenze.
420 Quadratkilometer.
Das am stärksten bombardierte, beschossene, begaste, entlaubte und verwüstete Gebiet der Kriegsgeschichte.
Gebaut über einen Zeitraum von 25 Jahren.
In den 1940ern begonnen. Als improvisierte Gegenwehr einer schlecht ausgestatteten Bauernarmee gegen die Kolonialmacht, die über modernste Waffen verfügte.
Als Zufluchtsort vor den Razzien.
Als unterirdischer Kommunikationsweg zwischen den Dörfern.
In den frühen 1960er beim Vietcong-Krieg re-aktiviert, saniert und ausgebaut.
Direkt über dem Tunnelsystem errichteten die amerikanischen Militärs ein großes Basislager. Immer wieder lagen morgens Soldaten tot in ihren Betten. Es dauerte Monate bis die Militärs begriffen, wieso.
Die Guerilleros der Vietcongs, die in den Tunneln stationiert waren, lebten unter extremen Bedingungen. Nur 6.000 der 16.000 Tunnelkämpfer überlebten den Krieg. Zehntausende Zivilisten starben.
Die Dörfer der Region sind mit Ehrungen überschüttet worden. Viele erhielten die Auszeichnung „Heldendorf“.
Das Tunnelsystem kann besichtigt werden!? – rufen in der Cafeteria alle zugleich wie im Chor.
Ja – sagt er und:
Er habe einen kleinen Tunnel ausgewählt, nahe der Hauptstadt, im Nordwesten, mit einem Besucherzentrum. Schließlich hatten sie nicht die Zeit für stundenlange Autofahrten. Der Vorturner hatte es auch abgesegnet.
Der Touristenführer sollte ursprünglich im Hotel auf sie warten. Dort wollte man sich umziehen. Sich der Businessanzüge entledigen. „Feeling Comfortably“.
Allerdings hatte sich der Zeitplan vor Ort von Gespräch zu Gespräch stärker verschoben, so dass man direkt von der Tochterfirma zu den Tunnels habe starten müssen.
Eigentlich habe er stutzig werden müssen, als der Touristenführer ihnen den Lageplan aushändigte:
Die Tunnel waren rot gekennzeichnet, die Stützpunkte des Vietcong hellgrau, die amerikanischen Militärposten blau. Im Zentrum: Das dunkelblaue Feld, der Stützpunkt jener Hauptbasis der US.Militärs.
Er sei auch noch nicht stutzig geworden, als sie fern der Hauptstadt bald eine halbe Stunde über Land gefahren seien, der Wagen mitten in einem Eukalyptushain stoppte und sie dann jäh aufgefordert wurden, auszusteigen:
„Yes, go out. Leave the car. Yes. Yes“
Der Touristenführer habe zur Eile angetrieben.
Der Vorturner habe schon skeptisch geschaut und gefragt:
„Wo ist hier das Besucherzentrum?“
Worauf der Touristenführer nur freundlich nickte,
immer wieder nickte,
und freudig ausrief: „Come along with me. Please follow me.“
Dann habe der Touristenführer sie an eine Stelle des Eukalyptushain geführt, mit beiden Händen den Blätterwald zur Seite geschoben und wieder gerufen:
„Come. Please. Come.“
Dahinter sei eine höchstens ein Meter fünfzig hohe Holzöffnung zum Vorschein gekommen. Der neue Konzernchef, das müsse man ihm lassen, habe kein Spielverderber sein wollen und sei schließlich da hinein verschwunden.
Während sein Vorturner ihn noch angeherrscht habe:
Worauf warten Sie noch, laufen Sie schon hinterher.
Drinnen habe er sich gleich den Kopf angeschlagen, wie der Konzernchef auch und sei hingefallen. Weil es so glitschig war.
Ja, vom Monsun… habe der Touristenführer gesagt, die Wege seien derzeit sehr aufgeweicht vom Monsun.
Da war es aber zu spät.
Der Konzernchef wutschnaubend.
Sofort wieder hinaus! habe der gerufen.
Verdreckt an Hosenbeinen, Anzugärmeln, der teure Armani zum Teufel.
Mit den Schuhen bis zu den Knöcheln im Morast versunken.
Er habe Glück gehabt, weil er sich von vornherein,
eine leichte schwarze Baumwollhose angezogen habe und ein Polohemd unterm Anzug trug.
Die Jacke habe er im Auto gelassen, es war ohnehin heiß und schwül…
Wie konntet Ihr denn so reinfallen – fragt ein Kollege am Kaffeetisch.
Der Tunnel war nicht beleuchtet und nicht mal einen Meter breit – sagt er.
Au weh – rufen alle im Chor.
Au weh – au weh – au weh.
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